Thorus - Konflikt oder Kooperation?

Michael Schröpl, Juli 1996 (INTERZINE 89)

Vor einem Jahr hatte ich eine Idee. Um diese auszuprobieren, habe ich ein Gilgamesch-Szenario geschrieben und gestartet. Inzwischen hat die Partie das vierte Spieljahr abgeschlossen - ein guter Zeitpunkt, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen.

Als kurze Einleitung für die Nicht-Gilgermanen: Thema dieses Artikels ist die Partie Thorus, die nach den Regeln der Diplomacy-Variante Gilgamesch ausgewertet wird, allerdings anonym und mit eingeschränktem Sichtbereich (Discovery) und daher individuellen Auswertungen für jeden Teilnehmer.

Jede solche Auswertung enthält eine gezeichnete Teilkarte der Welt, wobei jeder Spielstein eines Spielers eine Sichtweite von einem Feld besitzt. Jeder Spieler kann Nachrichten an andere Spieler senden, von denen er auf seiner aktuellen Karte mindestens einen Spielstein sehen kann.

Für mich hatten Partien mit individuellen Auswertungen, wie sie in der kommerziellen pbm-Szene eher der Normalfall sind, für bestimmte Spiele und Themen schon immer einen besonderen Reiz. Durch die beschränkte Informationsmenge für die einzelnen Spielpositionen erhält das Spielen ein zusätzliches Abenteuerelement: man weiß nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet.

Auch wird die Kommunikation zwischen den Spielern (die bei offenen Partien bestenfalls chat-Charakter haben kann und bei anonymen Spielen mit Verhandlungspresse doch ein wenig darunter leidet, daß der Feind mitliest) wesentlich wichtiger - die ursprüngliche reine Briefkommunikation bei Diplomacy, wo man durch sorgfältig entworfene diplomatische Noten seine Mitspieler zu überzeugen (oder wenigstens zu überreden) versucht, ist hier mein Vorbild.

Hinzu kommt, daß man gerade bei Partien mit vielen Teilnehmern das Partiegeschehen allein durch spieltechnische Operationen selten so stark beeinflussen kann wie durch Absprachen mit anderen Mitspielern. Der immanente Widerspruch zwischen den eigenen Interessen und denen der Verbündeten setzt hierbei einen ständigen Zielkonflikt, der für mich eines der interessantesten Probleme bei Mehrpersonenspielen überhaupt darstellt.

In der Kombination dieser Aspekte kann ich Indi-Spiele gerade aus dem Blickwinkel eines Rollenspielers, der ich jahrelang war, besonders genießen, wobei aber der pbm-typische Effekt, wochenlang über der bestmöglichen Taktik zu grübeln, keineswegs vernachlässigt werden muß.

Andererseits existieren gerade bei kommerziellen Indi-Spielen bestimmte Probleme, die mir das Spielen dort ziemlich schnell verleidet haben. Schon in der Zine-Szene sind ja Diskussionen über die Ethik beim Spielen keine Seltenheit; bei kommerziellen (auch anonymen) Spielen ist es nach meiner persönlichen Erfahrung üblich, daß sich mehrere Spieler simultan anmelden, Bündnisse also bereits vor Beginn der Partie bilden und den nichtsahnenden Mitspieler mühelos aus der Partie kicken können.

Ich habe aus verschiedenen Quellen gehört, daß kommerzielle Anbieter von solchen Praktiken zwar oft wissen, aber aus Rücksicht auf ihre "Stammkunden" diesen nicht an den Karren fahren wollen. Diese Abhängigkeit besteht für mich als reinem Hobby-GM nicht - ich sollte also wesentlich bessere Chancen haben, bestimmte ethische Aspekte in meiner Partie garantieren zu können. Hinzu kommt, daß ich mir für ein von mir angebotenes Testszenario die Freiheit nehmen kann, ausgewählte Spieler explizit einzuladen.

Ein wesentliches Problem bei Spielen im Discovery-Modus ist es, daß aufgrund der nur begrenzt verfügbaren Information über den Ablauf der Partie ein Angriff mehrerer verbündeter Spieler auf einen ahnungslosen Konkurrenten viel bessere Erfolgschancen hat als etwa in einer offenen Diplomacy-Partie, in der auch Spieler von geographisch weit entfernten Nationen durch entsprechende Bündnisse und Gegenangriffe versuchen können, das Gleichgewicht der Partie aufrechtzuerhalten. Wenn man gar nicht (oder erst zu spät) erfährt, was am anderen Ende der Welt geschieht, kann man viel schwerer eingreifen, um die eigenen Interessen zu wahren; Informationstransfer über diplomatische Kontakte ist immer vertrauensbasiert und kann zudem nicht in Nullzeit durchgeführt werden.
Deshalb ist es bei Spielen mit individuellen Auswertungen ja auch so attraktiv, gegen die Regel der Anonymität zu verstoßen und sich auf diese Weise einen unfairen Vorteil gegenüber den Mitspielern zu sichern. Ungefähr im Jahre 1984 habe ich schon einmal eine Discovery-Partie geleitet und damals einen Spieler wegen eines solchen Betrugs ausschließen müssen; von einer weiteren Partei weiß ich, daß sie wegen solch illegaler Kooperation kurz vor dem Abbruch stand.

Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, daß mangels verfügbarer Informationen über den Partieverlauf wichtige strategische Entscheidungen manchmal von unbedeutenden Zufällen abhängen.
Beispiel: Meine Truppen haben bei ihrer Erkundung in Richtung Osten lauter feindselige Wesen und Ungeheuer entdeckt, die derzeit für mich - aber genauso für den dahinter wohnenden Spieler - ein erhebliches Hindernis darstellen. Damit habe ich vermutlich erst mal den Rücken frei und kann meine Truppen an die Westfront werfen. Hat der dort wohnende Nachbar unglücklicherweise keine entsprechende Kompensation (oder gar noch andere feindliche Nachbarn), dann ist er ruckzuck platt, ohne wirklich etwas dafür zu können. Ich selbst habe aber auch keine Chance, vorher zu erkennen, ob ich die potenzielle Beute selbst behalten werde oder ob ich am Ende nur einem größeren Räuber in die Hände gearbeitet habe, den wir gemeinsam hätten aufhalten können.

Sind die Teilnehmer einer Partie von vorneherein in feste Teams eingeteilt (und wissen dies auch), dann wird zumindest die Kommunikation zwischen ihnen erheblich verbessert, und die Möglichkeiten, einander zu helfen, werden deutlich größer. Da in einem solchen Fall als Siegbedingung der Erfolg des Teams und nicht der Erfolg eines einzelnen Spielers bewertet wird, kann das frühe Ausscheiden eines Spielers - wie unerfreulich es für den Betreffenden auch sein mag - ein Opfer für das letztlich doch erfolgreiche Team darstellen, so daß der ausgeschiedene Spieler durch hinhaltenden Widerstand noch aktiv zum Sieg seiner Partei beitragen konnte.

Wenn sich aber Spieler in einem Team finden, die bereit sind, ihre technischen Möglichkeiten bis zum Anschlag auszureizen, dann wird ein Phänomen auftreten, welches Rollenspiel-GMs unter dem Begriff "das zwölfarmige Monster" kennen: Die Spieler geben die Individualität ihrer Spielposition auf, tauschen sämtliche Informationen aus, und es entsteht letztlich ein reines Zweiparteienspiel mit technischer Behinderung für beide Teams. (Am Rollenspieltisch diskutieren in diesem Moment beispielsweise der Dieb und der Waldlandbarbar, ob der Magier der Gruppe jetzt endlich seine Feuerkugel einsetzen oder doch lieber den Rückzug der Truppe mit einer Nebelwand sichern soll.)

Eine solche Situation - übertragen auf pbm - kann für mich als Spieler durchaus seinen Reiz haben. (Wie gebe ich meinem Verbündeten kompakt diejenigen Informationen, die er braucht, ohne 10 Seiten pro Mitspieler und Zug schreiben zu müssen? Wie vermeide ich langwierige Strategiediskussionen, wenn schnelles Zuschlagen gefragt ist?) Ich spiele derzeit eine Partie in diesem Modus, und es ist zweifellos die schönste Partie, die mir in den letzten 10 Jahren über den Weg gelaufen ist.

Für den GM und Szenario-Designer stellt sich jedoch an dieser Stelle die Frage, ob zwischen der strategischen Blindheit aller Teilnehmer und der Aufgabe der Individualität nicht vielleicht ein Mittelweg möglich ist. Es müßte also zwischen allen Teilnehmern eine Beziehung definiert werden, welche die Entscheidung zwischen Kooperation und Konflikt beeinflussen, aber nicht zwingend festlegen sollte. Dies war der Ansatzpunkt für das Modell, nach welchem in meiner Partie Thorus die Siegpunkte der einzelnen Spieler berechnet werden.

Das Szenario selbst stellt eine Welt dar, in der technisch hochentwickelte Staaten ihre Umwelt erschließen wollen und dabei in Interessenskonflikt mit den eingeborenen, eher naturorientierten Völkern dieser Welt geraten. Um das Fantasy-Element zu erhöhen, habe ich jeder Nation eigene Basisregeln gegeben (das Spielmaterial ist also individuell verschieden; einige Nationen besitzen sogar zusätzliche Spielelemente, die über die normalen Gilgamesch-Regeln hinausgehen - und die sind auch noch geheim, also bisher nur dem jeweiligen Besitzer bekannt), wobei ich insgeheim hoffe, keine zu wilden Erfindungen ins Leben gerufen zu haben (bisher hat alles ganz ordentlich funktioniert).

Die Zielsetzungen der Nationen sind - formal gesehen - durch drei Parameter beschrieben:

In den meisten Diplomacy-Varianten ist die Siegbedingung definiert als eine bestimmte Anzahl an Versorgungszentren, die von einer Nation kontrolliert werden. Es ist dort also notwendig, ein möglichst großes Gebiet zu erobern - wobei die Frage, auf wessen Kosten dies geht, eher zweitrangig erscheint, solange man seine Forderungen politisch und militärisch durchsetzen kann.

Genau hier habe ich mit meiner Idee angesetzt. Jedes Versorgungszentrum in meinem Szenario produziert Siegpunkte für alle Nationen, keineswegs nur für den Besitzer! Die Anzahl der Siegpunkte eines Zentrums für eine Nation hängt jedoch davon ab, wie ähnlich die Zielsetzungen zwischen dieser Nation und dem aktuellen Besitzer des Versorgungszentrums sind.

Im Einzelnen sieht das dann so aus:

Konkrete Zahlenwerte: Der Besitzer eines Versorgungszentrums erhält dafür +5 SP (2+1+1+1), eine andere Nation mit exakt gleichen Attributen erhält 4 SP, eine Nation mit exakt entgegengesetzten Attributen erhält -4 SP. Auch alle ganzzahligen Werte dazwischen sind möglich.

Es ist also ein erheblicher Unterschied, ob man einem "Freund" mit identischen Attributen ein Zentrum abnimmt (+1 SP) oder einem "Feind" mit genau entgegengesetzten Atributen (+9 SP). Und es ist nicht automatisch von Vorteil, gemeinsam mit einem Nachbarn eine dritte Nation unter sich aufzuteilen - jedenfalls dann nicht, wenn man zusammen mit einem "Feind" einen "Freund" zerlegt.

Diese "Bindungsstärke" zwischen Freunden kann man durch die konkreten Zahlenwerte ggf. noch feinregulieren - vermutlich würde ich beim nächsten Mal die Prämie für den eigenen Besitz auf 2 oder 3 Punkte erhöhen, um die extreme Fremdbestimmung des Erfolgs der Spieler etwas zu reduzieren.

Auf dieser Grundlage sind entsprechende Vorgaben für Verhandlungen gegeben. Hat eine Nation zwei Nachbarn, dann kann sie nun ausrechnen, mit welchem der beiden sie theoretisch besser zusammenarbeiten sollte, weil ein Angriff gegen diese Nation nach Siegpunkten gerechnet weniger attraktiv erscheint.

Das bedeutet keineswegs, daß eine solche Entscheidung damit automatisch gefallen ist - denn taktische Aspekte der Stellung und eine Vertrauensbasis aufgrund entsprechender Kommunikation können hier durchaus eine Rolle spielen. Ob eine Landnation beispielsweise eine Seemacht angreifen sollte, deren Kontrolleur das Spiel offensichtlich verstanden hat und in seinen Nachrichten vernünftige Vorschläge zur gegenseitigen Abrüstung an der Grenze macht, das hängt nicht nur von der Siegpunktzahl der potenziellen Beute ab, sondern mindestens genauso von der Wasserfestigkeit der eigenen Truppen und von der Vertrauenswürdigkeit der übrigen Nachbarn.

Um die Entscheidungsfindung noch interessanter zu gestalten und um das kommunikative Element des Spiels weiter zu stärken, habe ich den bestehenden Informationsaustausch zwischen zwei Nationen auch dazu genutzt, Informationen über die siegpunkterelevanten Aspekte der Partie zu transportieren. Mit jeder Nachricht, die ein Spieler sendet, liefert er dem Empfänger automatisch eine fälschungssichere Information über den Namen seiner Nation (also weder graue noch schwarze Presse; einem fremden Wesen auf der Karte sieht man den Namen seiner Nation ohne diplomatischen Kontakt noch nicht an) und seine Kulturstufe mit. Religion und Politik sind regeltechnisch gesehen grundsätzlich geheim, es ist aber erlaubt, entsprechende Informationen in einer Nachricht mitzuliefern (wobei allerdings vom GM keine Garantie für die Korrektheit der Aussagen gegeben wird).

Da die Kulturstufe bei der SP-Rechnung doppelt zählt, ist klar, daß zwei Nationen mit gleicher Kulturstufe (aus dem Blickwinkel der SP-Berechnung gesehen) einander niemals feindlicher gesonnen sein können als zwei Nationen mit unterschiedlicher Kulturstufe. Im Extremfall können die Beziehungen identisch sein (für eine Nation mit den Attributen [Staat, gut, technisch] sind Nationen mit den Attributen [Staat, böse, naturorientiert] und [Volk, gut, technologisch] gleich gute Partner).

Es liegt an jedem Spieler selbst, inwiefern er seinen Nachbarn seine sekundären Attribute mitteilt. Und es liegt am Geschick des Spielleiters, inwiefern er durch sonstige regeltechnische Elemente (z. B. die traditionell "guten" Elben und die traditionell "bösen" Trolle, die beide in Gilgamesch als Einheitentypen existieren) den Spielern darüberhinaus mehr oder weniger taugliche Anhaltspunkte zu liefern, um fehlende Informationen auf andere Art und Weise zu beschaffen.

Um auch den analytischen Verstand nicht gelangweilt in der Ecke herumgammeln zu lassen (Sleuth läßt grüßen), werden in jeder dritten Thorus-Auswertung allgemeine Werte über den Stand der Partie veröffentlicht:

Anzumerken ist an dieser Stelle, daß die Anzahl der Teilnehmer zu Beginn der Partie nicht bekanntgegeben wurde, so daß es das Privileg des Tabellenletzten ist, diese Zahl zu kennen (falls er weiß, daß er Letzter ist).

Mit diesen Zahlen kann man versuchen, ein Gleichungssystem zu basteln, das natürlich zunächst einmal hoffnungslos unterbestimmt ist. Aber die fehlenden Informationen zu beschaffen, ist auch eine Frage des Verhandlungsgeschicks und des gegenseitigen Vertrauens - wie alles, was man durch diplomatische Depeschen erledigen kann.

Im Gegensatz zu den meisten sonstigen Wettbewerbsspielen, in denen ein Einzelsieger bestimmt wird, ist bei Verwendung meines Punktsystems der Erfolg einer Nation natürlich sehr stark fremdbestimmt. Damit muß man als Spieler leben; immerhin hat man ja doch ein Einzelziel, das man als Mitglied eines festen Teams nicht hätte, auch wenn man vielleicht nur wenig tun kann, um dieses Ziel aktiv zu erreichen.

Insbesondere kann ein Spieler natürlich nichts dafür, daß er mitbestraft wird, wenn ein anderer Spieler mit ähnlichen Attributen durch schwaches Spiel zerfällt. Dagegen kann man als Szenario-Designer etwas tun, wenn man die Spieler aufgrund ihrer vermutlichen Spielstärke sinnvoll in Teams aufteilt und das Szenario ordentlich ausbalanciert. Bei meiner Partie hätte ich in beiden Beziehungen mehr tun können (und ggf. sollen), habe aber bisher Glück gehabt (und die Qualität meiner handverlesenen Spieler ist auch ziemlich hoch).

Der Verlauf meiner Partie (ohne jetzt zu deutlich geheime Informationen aufzudecken) zeigt mir zudem, daß das Schicksal einer Nation oft von Kleinigkeiten abhängen kann, die außerhalb der möglichen Szenario-Balance liegen:

Im Rahmen dieser Streuung scheint die Partie aber gut zu laufen; das Pendel der beiden Hauptteams (Staaten / Völker) ist nach acht Bewegungszügen zwar schon deutlich in eine Richtung ausgeschlagen, aber bis zum Erreichen der Siegbedingung hat der derzeitige Tabellenführer erst den halben Weg zurückgelegt. Und es ist keineswegs klar, daß alles militärisch so weiter läuft wie bisher. Es bleibt spannend ...